Der Leitsatz, dass grundsätzlich der kontaktberechtigte Elternteil das Kind von dessen ständigem Aufenthaltsort abzuholen und dorthin zurückzubringen habe, gehört zum langjährigen Bestand der ständigen Rechtsprechung. Seit einigen Jahren lässt allerdings der Nachweis „besonderer Umstände“ in Ausnahmefällen ein Abgehen von diesem Grundsatz – im Sinn der Verantwortung beider Eltern für die Umsetzung des Kontaktrechtsanspruchs (auch) des Kindes – zu.
Das Rekursgericht bestätigte den erstinstanzlichen Beschluss, mit welchem dem Vater – bei vorläufiger Beibehaltung der gemeinsamen Obsorge der Eltern und hauptsächlicher Betreuung der Kinder im Haushalt der Mutter – vorläufig ein wöchentliches Kontaktrecht von Montag, 9:00 Uhr, bis Mittwoch, 11:00 Uhr, eingeräumt wurde, wobei die Kinder zu Beginn der Kontaktzeit vom Vater bei der Mutter und bei deren Ende von der Mutter beim Vater abzuholen sind.
Der OGH wies den außerordentlichen Revisionsrekurs der Mutter mangels Vorliegens einer erheblichen Rechtsfrage zurück.
Aus der OGH-Entscheidung:
1.1. Die Revisionsrekurswerberin kritisiert, dass das Erstgericht im Hinblick auf den von ihr geäußerten Verdacht des Kindesmissbrauchs bzw. der Misshandlung der Kinder durch den Vater kein Gutachten eines „Gerichtsmediziners“ eingeholt habe. Gelangen die Vorinstanzen zum Ergebnis, dass die aufgenommenen Beweise eine ausreichende Entscheidungsgrundlage bilden, ist die Tatsachenfrage, ob ein weiteres Sachverständigengutachten allenfalls eine zusätzliche Aufklärung gebracht hätte, vom OGH nicht überprüfbar (…).
1.2. Beide Vorinstanzen setzten sich mit dem – auf Hämatome eines Kindes sowie Entzündungen der (damals noch Wickel-)Kinder im After- und Genitalbereich gestützten – Missbrauchs- bzw. Misshandlungsvorwurf der Mutter auseinander. Das Erstgericht konnte keine Anhaltspunkte dafür feststellen, dass der Vater die Kinder – in welcher Form auch immer – misshandle oder sie in seinem Umfeld misshandelt würden. Es konnte auch nicht feststellen, dass die Verletzungen (mit Ausnahme von Kratzern am Oberschenkel) während der Betreuung durch ihn entstanden. Dass die Entzündungen auf eine mangelnde Pflege durch ihn zurückzuführen wären, sei unwahrscheinlich. Das Rekursgericht ging auf dieser Grundlage davon aus, dass kein konkreter Verdacht bestehe, die Kinder könnten beim Vater Übergriffen ausgesetzt sein.
1.3. Die Revisionsrekurswerberin übergeht die erstinstanzlichen Feststellungen und setzt sich auch mit der ausführlichen Begründung des Rekursgerichts, das einen Verfahrensfehler des Erstgerichts verneinte, nicht auseinander. Sie zeigt damit nicht auf, warum die unterlassene Einholung des Gutachtens eines „Gerichtsmediziners“ (zusätzlich zum ohnehin eingeholten kinderpsychologischen Gutachten) eine erhebliche Rechtsfrage im Sinn des § 62 Abs. 1 AußStrG begründen sollte. Davon, dass sich das Rekursgericht mit ihren Argumenten nicht auseinandergesetzt habe, kann keine Rede sein. Das Erstgericht ging dem von der Mutter geäußerten Missbrauchs- bzw. Misshandlungsvorwurf im Übrigen weiter nach und holte dazu ein zweites Gutachten einer (anderen) Kinderpsychologin ein. Dieses liegt mittlerweile vor, es ergeben sich aber auch daraus keinerlei Hinweise auf einen Missbrauch oder eine Misshandlung der Kinder durch den Vater, wohl aber Anhaltspunkte für einen psychischen Missbrauch durch die Mutter. (…)
2.4. Dass die Vorinstanzen dem – nach den Feststellungen in zumindest gleichem Maß wie die Mutter erziehungsfähigen – Vater (…) ein umfangreiches Kontaktrecht einräumten, bedarf keiner Korrektur, zumal die Kinder ähnlich stark auf beide Elternteile bezogen sind. Persönliche Animositäten der Eltern haben hinter dem Kindeswohl zurückzutreten (vgl. RS0047754 [T18]). Sie könnten das Kontaktrecht nur hindern, wenn das Kindeswohl durch den Konflikt gefährdet würde (vgl. RS0048061; RS0047754 [T9]). Dass dies aufgrund des Verhaltens des Vaters der Fall wäre, zeigt die Revisionsrekurswerberin – deren Argumentation nicht auf dem festgestellten Sachverhalt beruht – nicht auf. (…)
4.1. Die Mutter kritisiert in ihrem Rechtsmittel auch, dass sie die Kinder am Ende der Kontaktzeit beim Vater abholen muss. Sie beruft sich dazu auf einen Grundsatz, wonach der Kontaktberechtigte das Kind von dessen ständigem Aufenthaltsort abzuholen und dorthin zurückzubringen habe (vgl. RS0048002). In der Rechtsprechung sind jedoch Ausnahmen von diesem Grundsatz durchaus anerkannt (idS bereits 3 Ob 529/89; aus jüngerer Zeit etwa 1 Ob 181/20d mwN), wobei vor allem wirtschaftliche und organisatorische Faktoren, die eine Regelung praktikabel machen, zu berücksichtigen sind, etwa bei weiteren Entfernungen das Transportproblem und der damit verbundene Zeit- und Kostenaufwand sowie berufliche Rücksichten der Eltern (vgl. RS0048002 [T7]; 1 Ob 181/20d mwN). Je umfangreicher die Betreuungszeiten des nicht hauptsächlich betreuenden Elternteils sind, desto eher wird auch für den mit der „Übergabe“ eines Kindes verbundenen Aufwand eine ausgewogene Regelung anzustreben sein. Ob im Einzelfall Umstände vorliegen, die es rechtfertigen, dass das Kind dem „kontaktberechtigten“ Elternteil an dessen Wohnort übergeben oder von dort abgeholt wird, begründet typischerweise keine Rechtsfrage im Sinn des § 62 Abs. 1 AußStrG (RS0048002 [T8]).
4.2. Die Revisionsrekurswerberin behauptet zwar, dass es ihr als Ärztin nicht zumutbar sei, die Kinder einmal pro Woche beim Vater abzuholen, legt aber nicht dar, warum sie sich ihre Dienstzeiten – sie arbeitet an zwei Halbtagen pro Woche in der Ordination eines anderen Arztes mit – nicht entsprechend einteilen könnte. Sie übergeht auch, dass der Vater ebenfalls teilzeit berufstätig ist und sie – obwohl ihr die Obsorge gemeinsam mit diesem zusteht – (gegen seinen Willen) mit den Kindern aus der gemeinsamen Wohnung auszog und später in einen ca. 90 km entfernten Ort übersiedelte. Da die Rechtsmittelwerberin auch nicht darlegt, warum es dem Wohl der Kinder widerspräche, wenn diese von ihr beim Vater abgeholt werden (vgl. 7 Ob 285/04v), zeigt sie auch zur diesbezüglichen Anordnung durch die Vorinstanzen keine korrekturbedürftige Fehlentscheidung auf.
OGH 25.1.2022, 1 Ob 225/21a