Nach Art. 13 des Haager Kindesentführungsübereinkommens kann das Gericht die Rückführung eines Kindes in den Herkunftsstaat (trotz einer festgestellten Sorgerechtsverletzung bei der Kindesmitnahme) unter anderem deshalb ablehnen, weil sich das Kind dieser Maßnahme widersetzt und ein Alter sowie eine Reife erreicht hat, die es geboten erscheinen lassen, die Meinung des Kindes zu berücksichtigen. In einer Entscheidung vom Mai 2023 musste der Fachsenat beurteilen, welches Gewicht dem Wunsch eines psychisch kranken Kindes, in seiner nunmehrigen Umgebung zu bleiben und nicht in den Herkunftsstaat zurückzukehren, zukommt.

Aus der OGH-Entscheidung:

(…) 1.2 Die in § 66 Abs. 1 Z 1 AußStrG genannten Mängel, zu denen die Verletzung des rechtlichen Gehörs gemäß § 58 Abs. 1 Z 1 AußStrG zählt (vgl. RS0121265 [T4]), können zwar auch dann in einem Revisionsrekurs geltend gemacht werden, wenn sie vom Rekursgericht verneint wurden (RS0121265). Dieser Anfechtungsgrund wirkt aber nicht absolut; er kann nur dann zur Aufhebung führen, wenn die Verletzung zum Nachteil des Rechtsmittelwerbers ausschlagen könnte (RS0120213). Nach ständiger Rechtsprechung wird der Mangel des rechtlichen Gehörs in erster Instanz behoben, wenn – wie im vorliegenden Fall – für die Parteien die Gelegenheit bestand, im Rekurs zu den maßgeblichen Beweisergebnissen (…) – diesfalls ohne Beschränkung durch das Neuerungsverbot – Stellung zu nehmen. (…)

2.1 Nach Art. 13 Abs. 2 HKÜ kann die Rückgabe des Kindes vom angerufenen Gericht unter anderem dann abgelehnt werden, wenn sich das Kind der Rückgabe widersetzt und es ein Alter und eine Reife erreicht hat, angesichts deren es angebracht erscheint, seine Meinung zu berücksichtigen. Das Gericht kann jedoch im Rahmen der ihm zukommenden Ermessensübung nach Art. 13 Abs. 2 HKÜ Authentizität und Ernsthaftigkeit des von den Kindern geäußerten Wunsches sowie das Gewicht der dafür ins Treffen geführten Gründe gegen die Gesamtzielsetzung des Übereinkommens abwägen (6 Ob 217/14a; vgl. RS0074552).

Nach den auf die Ergebnisse des vom Erstgericht eingeholten Sachverständigengutachtens gegründeten Feststellungen leidet das Kind an einer psychischen Krankheit (schwere depressive Episode). Der Reifegrad des Kindes ist trotz seines Alters nicht entsprechend ausgebildet, um die weitreichenden zukünftigen Konsequenzen seines gegenwärtigen Handelns und seiner gegenwärtigen Äußerungen erfassen oder ausreichend beurteilen zu können. Es ist nicht in der Lage, seinen (vom Antragsgegner unbeeinflussten) authentischen Willen zu äußern. Wenn die Vorinstanzen bei dieser Sachlage den geäußerten Wunsch des Kindes, nicht nach Griechenland zurück zu wollen, als nicht ausschlaggebend erachteten, ist darin keine vom OGH im Interesse der Rechtssicherheit aufzugreifende Fehlbeurteilung zu erblicken.

2.2 Das dem Erstgericht vorgelegte Schreiben, in dem das ohnehin unmittelbar angehörte Kind diesen Wunsch (neuerlich) äußerte, wurde zum Akt genommen, in einer mündlichen Verhandlung erörtert und in den Entscheidungen der Vorinstanzen berücksichtigt. Einer ausdrücklichen Feststellung seines Wortlauts, wie sie der Revisionsrekurs vermisst, bedurfte es nicht.

3.1 Der Ausnahmetatbestand des Art. 13 Abs. 1 lit b HKÜ ist nach der Rechtsprechung eng auszulegen und deshalb auf wirklich schwere Gefahren zu beschränken (RS0074568 [T8]). Ob das Kindeswohl im Sinn des Art. 13 Abs. 1 lit b HKÜ bei einer Rückgabe gefährdet ist, ist eine von den jeweiligen Umständen abhängige Frage, die im Einzelfall zu entscheiden ist und daher regelmäßig keine erhebliche Rechtsfrage i.S.d. § 62 Abs. 1 AußStrG darstellt.

3.2 Das Kind war wegen seiner psychischen Erkrankung bereits während des erstinstanzlichen Verfahrens in Österreich stationär in einem Krankenhaus aufgenommen. Die Antragstellerin hat – wie vom Erstgericht i.S.d. Art. 27 Abs. 3 Brüssel IIb-VO gefordert – verbindlich zugesichert und urkundlich belegt, dass das Kind, entsprechend den Ergebnissen des eingeholten Sachverständigengutachtens, im Fall der Rückführung zunächst nicht bei ihr, sondern in einem Krankenhaus betreut wird, und damit die Vorinstanzen von getroffenen angemessenen Vorkehrungen zum Schutz des Kindes überzeugt. Das von der Antragstellerin kontaktierte (konkrete) Krankenhaus in Griechenland ist nach den Feststellungen in der Lage, eine geeignete psychiatrische Betreuung des Kindes sicherzustellen.

Soweit der Revisionsrekurs im Falle der Rückführung das Kindeswohl dadurch gefährdet sieht, dass unklar sei, wo sich das Kind nach der Rückführung aufhalten werde, wenn das Krankenhaus keinen stationären Aufenthalt gewährleiste, entfernt er sich von den Feststellungen. Mit dem bloßen Hinweis, damit werde das Kind einer ungewissen Zukunft in Griechenland ausgesetzt, bringt der Revisionsrekurs keine erhebliche Rechtsfrage i.S.d. § 62 Abs. 1 AußStrG zur Darstellung.

3.3 Das Kind besucht in Österreich zwar eine Schule, kann sich aufgrund der Sprachprobleme im Alltag aber nur schwer verständigen und hat wenig Sozialkontakte. Auch die Behauptung des Revisionsrekurses, das Kind werde durch die Rückführung aus einer guten sozialen Integration in Österreich herausgerissen, geht somit nicht vom Sachverhalt aus.

3.4 Die Trennung von der Antragstellerin, bei der das fast 15-jährige Kind bis zu seiner Entführung gelebt hat, ist noch nicht von langer Dauer. Das Kind wird nach der Rückführung nach Griechenland auch nicht sofort bei der Antragstellerin wohnen. Vor diesem Hintergrund ist die Beurteilung des Rekursgerichts, aus dem Unterbleiben einer nun vom Rechtsmittelwerber geforderten Kontaktanbahnung i.S.d. § 111c Abs. 6 AußStrG mithilfe der Jugendwohlfahrtsträger in Österreich und auch in Griechenland ergebe sich keine schwere Gefährdung des Kindeswohls, nicht korrekturbedürftig. (…)

OGH 17.5.2023, 6 Ob 80/23t