Mit der Obsorge sind beide Eltern betraut. Die Mutter übersiedelte mit dem Kind – gegenüber dem Vater widerrechtlich – von Österreich nach Deutschland. Im Pflegschaftsverfahren vor dem weiterhin zuständigen österreichischen Gericht streiten die Eltern über die internationale Zuständigkeit, die Obsorge, den Umfang des Kontaktrechts und die Mitwirkungspflichten zu seiner Umsetzung. Der Oberste Gerichtshof nimmt auch zur Frage Stellung, ob der Transport des Kindes zur Ausübung des Kontaktrechts ausschließlich die Sache des Vaters ist oder ob die Mutter das Kind alle paar Wochen vom Vater abholen und somit an der Realisierung des Kontaktrechts mitwirken muss. Die Kurzform der Antwort lautet: Sie muss – zumindest in diesem Ausnahmefall.

Aus der OGH-Entscheidung:

Der nunmehr achtjährige Sohn entstammt der Beziehung seiner unverheirateten Eltern. Er ist österreichischer und deutscher Staatsbürger und lebte von seiner Geburt bis Sommer 2018 in Wien. Die Eltern vereinbarten, dass ihnen die Obsorge gemeinsam zustehen solle, was pflegschaftsgerichtlich genehmigt wurde; eine Vereinbarung über die hauptsächliche Betreuung wurde nicht getroffen. Die Mutter übersiedelte mit dem Sohn Ende August/Anfang September 2018 – gegenüber dem Vater widerrechtlich – nach Deutschland, wo die beiden seither wohnen.

Das Erstgericht entzog dem Vater die Obsorge für den Sohn, sodass diese zukünftig der Mutter allein zustehe, regelte das Kontaktrecht des Vaters und erteilte beiden Elternteilen bestimmte Auflagen.

Das Rekursgericht gab dem vom Vater erhobenen Rekurs u.a. dahin Folge, dass die Obsorge für den Sohn auch in Zukunft beiden Elternteilen gemeinsam zukomme, wobei die hauptsächliche Betreuung des Minderjährigen im Haushalt der Mutter in Deutschland erfolge.

Der Minderjährige hatte zum Zeitpunkt der Antragstellung vor dem Erstgericht seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Österreich. Damit waren die österreichischen Gerichte nach Art. 8 Abs. 1 Brüssel IIa-VO international zuständig. Bei einem im Inland gelegenen gewöhnlichen Aufenthalt des Minderjährigen ist gemäß Art. 8 Abs. 1 Brüssel IIa-VO iVm Art. 15 Abs. 1 KSÜ österreichisches Recht anzuwenden (RIS-Justiz RS0127234 [T1]).

Strittig ist, ob Art. 15 Abs. 1 KSÜ auch dann anzuwenden ist, wenn die Zuständigkeit zwar nach der Brüssel IIa-VO, beispielsweise wie im vorliegenden Fall aufgrund der perpetuatio fori, gegeben ist, nicht mehr jedoch – aufgrund des Aufenthaltswechsels des Sohnes vor zwei Jahren während des laufenden Verfahrens – nach dem KSÜ (vgl. Art. 5 Abs. 2 KSÜ). Die Frage, ob österreichische Gerichte auch bei einem Aufenthaltswechsel des Minderjährigen innerhalb der EU-Mitgliedstaaten weiterhin gemäß Art. 15 Abs. 1 KSÜ österreichisches Sachrecht anzuwenden haben oder nicht, braucht nicht geklärt zu werden. Ginge man davon aus, dass Art. 15 Abs. 1 KSÜ nicht anzuwenden wäre, weil das Tatbestandsmerkmal der Ausübung der Zuständigkeit „nach Kapitel II“ [des KSÜ] nicht erfüllt ist, da sich die Zuständigkeit der österreichischen Gerichte (nur) aus Art. 8 Abs. 1 Brüssel IIa-VO ergibt, wären für die Bestimmung des anzuwendenden nationalen Sachrechts die Kollisionsnormen des Gerichtsstaats, somit jene des österreichischen IPRG, heranzuziehen. Sowohl nach Art. 15 Abs. 1 KSÜ als auch nach dem ansonsten anzuwendenden IPRG gelangt jedenfalls österreichisches Recht zur Anwendung, wovon (im Ergebnis) auch das Rekursgericht ausging. (…)

Seit dem KindNamRÄG 2013 soll die Obsorge beider Eltern der Regelfall sein (RS0128811 [T1]). Dies setzt ein gewisses Mindestmaß an Kooperations- und Kommunikationsfähigkeit voraus, weil es bei der gemeinsamen Obsorge erforderlich ist, in entsprechend sachlicher Form Informationen auszutauschen und Entschlüsse zu fassen. Es ist daher vom Gericht eine Beurteilung dahin vorzunehmen, ob eine entsprechende Gesprächsbasis zwischen den Eltern vorhanden oder in absehbarer Zeit mit einer solchen zu rechnen ist (RS0128812).

Bei der Beurteilung, ob zwischen den Eltern eine ausreichende Kommunikationsbasis für die Ausübung der gemeinsamen Obsorge besteht, kommt es in erster Linie auf die jeweilige Bereitschaft zum Informationsaustausch und nicht auf die Art der Nachrichtenübermittlung an (RS0128812 [T17, T21, T22]; RS0132055). Das Rekursgericht legte zugrunde, dass die Fähigkeit der Eltern zur Kommunikation grundsätzlich gegeben sei, die Kooperation vorwiegend aber an der Bereitschaft der Mutter scheitere (vgl. RS0128812 [T11]). Die Eltern seien – zumindest in Teilfragen – durchaus zu einer einigermaßen vernünftigen und konstruktiven Kommunikation fähig (z.B. Änderung des Kontaktrechts im Sommer im Ausmaß von drei Wochen). In Zukunft sei eine verbesserte Kommunikation zwischen ihnen durchaus möglich, auch wenn sich die Mutter – nach dem Akteninhalt – an keine behördlichen oder gerichtlichen Vorgaben halte.

Diese Beurteilung ist nicht korrekturbedürftig, empfiehlt doch auch der beigezogene Sachverständige letztlich die gemeinsame Obsorge als „vermutlich die vernünftigere Variante“. Unter Zugrundelegung der getroffenen Kontaktrechtsregelung ist trotz der Entfernung der Wohnsitze die Beteiligung des Vaters an der Betreuung des Minderjährigen weiterhin gesichert. Die ursprünglich aufgrund des Umzugswunsches der Mutter nach Deutschland entstandene Eskalation der Beziehungssituation hat sich beruhigt und die Verlegung des Wohnsitzes des Sohnes nach Deutschland wurde zwischenzeitig mit Beschluss des Erstgerichts vorläufig gerichtlich genehmigt und vom Vater auch akzeptiert.

Grundsätzlich kann der (primär) zur Pflege und Erziehung berufene Elternteil, selbst wenn er finanziell dazu im Stande wäre, nicht verpflichtet werden, das Kind, das sich ständig im Ausland aufhält, dem anderen Elternteil – allein um ihm den persönlichen Verkehr mit seinem Kind zu erleichtern oder zu ermöglichen – an einem bestimmten Ort (im Inland) zuzuführen; der Kontaktberechtigte hat vielmehr selbst das Kind von dessen ständigem Aufenthalt abzuholen und dorthin zurückzubringen (RS0048002). In der Rechtsprechung (7 Ob 285/04v; 3 Ob 84/11s; 3 Ob 159/19g; ähnlich 3 Ob 529/89) ist aber anerkannt, dass besondere Umstände Ausnahmen von diesem Grundsatz rechtfertigen können. Dabei sind nicht nur psychologische Aspekte bestimmend, sondern auch eine Reihe weiterer, vor allem wirtschaftlicher und organisatorischer Faktoren zu beachten, die eine Regelung praktikabel machen; z.B. bei weiten Entfernungen das Transportproblem und der mit den Fahrten verbundene Zeitaufwand und in diesem Zusammenhang auch finanzielle und berufliche Rücksichten (3 Ob 84/11s; RS0048002 [T7]). Ob solche besonderen Umstände vorliegen, die ausnahmsweise eine davon abweichende Kontaktrechtsgestaltung gerechtfertigt erscheinen lassen, ist eine Frage des Einzelfalls.

Die Mutter bestreitet nicht das Vorliegen der von ihr durch die Übersiedlung mitverursachten Ausgangslage, nämlich der beachtlichen Entfernung der Wohnorte. Sie erachtet es aber aufgrund ihrer Berufstätigkeit und der Fahrtkosten als unzumutbar, einmal in zwei Monaten einen Sonntag im Zug zu verbringen, um ihren Sohn in Wien vom Vater nach der Ausübung des Kontaktrechts abzuholen. Ein zweimonatiges Regelkontaktrecht in Deutschland sei in Verbindung mit dem Ferienkontaktrecht und den möglichen Videotelefonaten ausreichend. Die Einschätzung des Rekursgerichts, unter Berücksichtigung der besonderen Umstände (Verlegung des Wohnsitzes nach Deutschland durch die Mutter; von den im Zeitraum von zwei Monaten insgesamt vier anfallenden „Kontaktfahrten“ habe die Mutter nur eine zu absolvieren; eingeschränkte finanzielle Möglichkeiten des Vaters; positives Signal für ihren Sohn, die Mutter unterstütze den Kontakt zum Vater) sei es der Mutter zumutbar, jeden zweiten Monat an einem Sonntag nach Wien und wieder zurück zu reisen, um ihren Sohn abzuholen, ist nicht zu beanstanden. Zudem wäre ein Kontaktrecht im Ausmaß von nur einem Wochenende alle zwei Monate zwischen dem Vater und seinem achtjährigen Sohn für eine tragfähige Beziehung nicht ausreichend.

OGH 20.10.2020, 1 Ob 181/20d