Sehr geehrte Damen und Herren,

ich bin seit dem Jahr 1994 Familienrichterin in Wien. Knapp 28 Jahre, eine lange, wechselvolle Zeit. In den letzten Jahren rückten statt Verfahrensparteien, Rechtsproblemen und der klugen Vorgabe des Gesetzgebers, dass Pflegschaftsverfahren am Wohl der Kinder orientiert zu führen sind, zunehmend Prüflisten, die Forderung der Justizverwaltung nach einem „registerorientierten“ Arbeiten und aufwändige Berichtspflichten in das Zentrum der richterlichen Arbeit. Verfahrensparteien und ihre Interessen wurden zu Registerzahlen, Entwicklungsbelastungen von Kindern als Hinderungsgründe für rasche Erledigungen bewertet, Richter:innen und Rechtspfleger:innen in erster Linie als Planstellen wahrgenommen. Die Beurteilung ihrer Leistungen durch die Justizverwaltung erfolgte immer mehr nach quantitativen und nicht nach qualitativen Kriterien, und die ausschließlich defizitorientierte Auseinandersetzung mit Mitarbeiter:innen der Familiengerichte sowie der Mangel an Respekt und Wertschätzung im Umgang mit ihnen prägten das Arbeitsklima und führten zu viel Verdruss in meinem beruflichen Umfeld. Ein Obsorgeverfahren, in dem die Anträge den Verfahrensparteien zur Stellungnahme übermittelt werden, der Akt dann unmittelbar bei der Familiengerichtshilfe oder beim Kinder- und Jugendhilfeträger landet und die Entscheidung auf der Grundlage der Erhebungsergebnisse dieser Institutionen, ohne Verhandlung, ohne weitergehende Befassung mit dem Kind und (Achtung, Prüfliste!) ohne verfahrensverzögernde Ideen wie Erziehungsberatung oder Kinderbeistandschaft getroffen wird, mag die Vorstellung von einer möglichst kurzen Verfahrensdauer geradezu ideal erfüllen; nach meiner Auffassung ist dieses Modell aber ein kindschaftsrechtlicher Supergau, und die Annahme, dass dadurch Kinderrechte angemessen gewahrt und regelmäßig nachhaltige Lösungen erarbeitet werden könnten, erfordert viel Zuversicht und die Bereitschaft, auch realitätsfremden Erwägungen beträchtliche Bedeutung beizumessen. Das Familienrecht, das zumindest in meiner Wahrnehmung in der Justiz eine Zeitlang verstärkte Anerkennung erfahren hatte, wurde in den letzten Jahren sowohl für die höhere Justizverwaltung als auch für die meisten Berufsanwärter:innen wieder zur ungeliebten Materie, und der Wert von bestandfesten Lösungen statt rascher Regelungen hat in dieser Entwicklung sehr viel weniger Gewicht.

Ich beobachte diese starke Tendenz – wie viele Kolleg:innen und Mitarbeiter:innen – seit Jahren mit erheblicher Sorge, mit großem Bedauern und mit steigendem Unmut. In den letzten Monaten, als ich infolge eines Antrags auf Bewilligung einer Karenzierung mehr Kontakte mit der höheren Justizverwaltung als in den Jahrzehnten davor hatte und diese doch einigermaßen irritierend verliefen, wurde mir bewusst, dass ich in den Strukturen, wie sie die Wiener Justiz heute kennzeichnen, meine Vorstellungen von einer Arbeit im Familienrecht und mein Berufsbild nicht mehr in jenem Ausmaß verwirklichen kann, wie mir dies sowohl für eine erfolgreiche Verfahrensführung nach zeitgemäßen Maßstäben als auch für das Erleben, dass mich meine Arbeit zufriedenstellt und froh macht, unabdingbar erscheint. Besonders symptomatisch für das Auseinanderklaffen zwischen den Wertungen der Justizverwaltung und meinen Anschauungen war dabei wohl die Aussage, der Umstand, dass ich nach so vielen Jahren immer noch Familienrichterin sei und keine in der Justizhierarchie bedeutungsvolleren Arbeitsfelder angestrebt habe, zeige einen Mangel an beruflicher Zielstrebigkeit und achtsamer Karriereplanung – für Angehörige der Justizverwaltung wohl nur ein Nebensatz, aber für mich ein aufrüttelndes Signal dafür, wie ausgeprägt unsere Auffassungsunterschiede sind. In diesem Verständnis fast schon konsequent lautete einer der letzten Vorschläge, „wir“ sollten „nach außen“ sagen, dass ich deshalb aus der Justiz austrete, weil ich mich künftig ausschließlich der wissenschaftlichen Tätigkeit widmen wollte. Ich war ja schon vom „wir“ ein bisschen erstaunt – aber ein solcher Satz würde die Situation auch sonst nicht zutreffend abbilden, zumal ich in der Kombination des langjährigen Arbeitens in der richterlichen Praxis einerseits und im Bereich der Fachliteratur andererseits eine fachlich für beide Bereiche nutzbare und für mich attraktive Verbindung gesehen habe.

Ich werde daher zum 30. April 2022 aus der Justiz ausscheiden. Derzeit verbrauche ich reichlich angesammelte Urlaubstage und gewöhne mich schon einmal an die Idee, meinen Tagesablauf selbst zu strukturieren.

Seit dem Zeitpunkt, als ich mit Menschen aus meinem Umfeld die Möglichkeit eines Austritts aus der Justiz besprach, dann Verfahrensparteien und ihre Rechtsanwält:innen mit der etwas spröden Formulierung „Grund für die Abberaumung der Verhandlung: Richterwechsel“ über die bevorstehende Veränderung informierte und sich mein baldiger Abgang herumsprach, erhielt ich zahlreiche Reaktionen. Ich danke allen, die in Gesprächen mit mir und in Mails an mich so viel Wertschätzung für meine bisherige Arbeit und mein Berufsverständnis zum Ausdruck brachten – diese Kontakte mit Ihnen haben mich sehr berührt und werden ein besonders wichtiger Teil meiner Erinnerungen sein. Und ich danke allen, die mich seit Dezember im Entscheidungsprozess unterstützt und in der Absicht, aus der Justiz auszuscheiden, bestärkt haben – Sie haben bei mir die Überzeugung gefördert, dass, im Sinne des Dichtens von Hesse über die Lebensstufen, jedem Anfang ein Zauber innewohnt und dieser in neuen Lebensräumen zu wirken und zu strahlen beginnen wird. Genauso dankbar bin ich allen, die meine Entscheidung nicht richtig fanden, die die Auffassung vertreten, man müsse Veränderungen in der Justiz aus ihrem Inneren heraus versuchen und dürfe für die eigenen Haltungen und Überzeugungen sowie für die Unabhängigkeit der Rechtsprechung nicht nur wortreich in Fachliteratur und Vorträgen eintreten, und die mir eine ganze Reihe von möglichen Handlungsalternativen aufzeigten – Sie haben dazu beigetragen, dass ich meinen Entschluss noch besser überlegen und viel mehr Gesichtspunkte gegeneinander abwägen musste, als mir in manchen Phasen der Enttäuschung und des bitteren Zorns lieb war.

Mein besonderer Dank und eine innige Umarmung gehört den Mitarbeiter:innen meiner Abteilung, allen voran meiner Kanzleileiterin, mit der ich 18 Jahre lang zusammenarbeiten durfte. Ihre überragende Kompetenz war ein stützender und beständiger Beitrag zur erfolgreichen Ausübung meiner richterlichen Tätigkeit, das enge und vertrauensvolle Verhältnis, der Zusammenhalt und die vergnügliche Stimmung trotz massiver Arbeitsbelastung waren mir eine große Freude, und für das unbeschreibliche Ausmaß an Loyalität auch in den letzten Wochen und Monaten werde ich für immer dankbar sein.

Für mich ändert sich mit meinem Schritt eine ganze Menge, für Sie sehr viel weniger – es sei denn, Sie sind Rechtsanwält:innen, Sachverständige oder Kinderbeistände mit Verfahren in der Abteilung 2 des Bezirksgerichtes Döbling. Naja, manches wird sich wohl doch ändern: ZiFF-Seminare werden noch ein bisschen häufiger stattfinden, Newsletter tatsächlich vier Mal pro Jahr erscheinen, meine Beiträge für Publikationen etwas zahlreicher werden und – so sei es den mitlesenden Herausgebern, Redaktionsmitgliedern und Verlagsmenschen frohen Mutes versichert – pünktlicher einlangen, und Ihre Mails werden rascher beantwortet sein. Ich freue mich auf den neuen Lebensabschnitt und die weiteren Kontakte mit Ihnen!

Mit herzlichen Grüßen

Susanne Beck
Leiterin Z!FF