Sehr geehrte Damen und Herren,
im Mai 2019 beschloss die ÖVP-FPÖ-Regierung ein Kopftuchverbot für Volksschulkinder. § 43a Abs. 1 SchUG lautete: „Um die bestmögliche Entwicklung und Entfaltung aller Schülerinnen und Schüler sicherzustellen, ist diesen bis zum Ende des Schuljahres, in welchem sie das 10. Lebensjahr vollenden, das Tragen weltanschaulich oder religiös geprägter Bekleidung, mit der eine Verhüllung des Hauptes verbunden ist, untersagt. Dies dient der sozialen Integration von Kindern gemäß den lokalen Gebräuchen und Sitten, der Wahrung der verfassungsrechtlichen Grundwerte und Bildungsziele der Bundesverfassung sowie der Gleichstellung von Mann und Frau.“ Die Verbotsregelung klang sehr viel mehr nach einem Parteiprogramm als nach einem üblichen Gesetzestext. In den Materialien stellte der Gesetzgeber – im Sinn eines einschränkenden Verständnisses der Bestimmung – klar, dass etwa die jüdische Kippa oder die von Sikhs in diesem Alter getragene Patka nicht von der Regelung erfasst waren, und verdeutlichte seine Absicht, mit der Gesetzesvorschrift ausschließlich das Tragen eines islamischen Kopftuches untersagen zu wollen.
Mit dem Erkenntnis vom 11.12.2020 (G 4/2020) hob der Verfassungsgerichtshof das Verhüllungsverbot („Kopftuchverbot“) an Volksschulen als verfassungswidrig auf. Aus der Entscheidung: „Das selektive Verbot gemäß § 43a SchUG trifft ausschließlich muslimische Schülerinnen und grenzt sie dadurch in diskriminierender Weise von anderen Schülerinnen und Schülern ab. Die Durchsetzung der religiösen und weltanschaulichen Neutralität des Staates kann zwar grundsätzlich auch Beschränkungen der individuellen Rechtssphäre rechtfertigen. Das Abstellen auf eine bestimmte Religion oder Weltanschauung und ihren spezifischen Ausdruck in einer (und nur dieser) Art der Bekleidung, die noch dazu mit anderen nicht verbotenen Bekleidungsgewohnheiten in der einen oder anderen Weise vergleichbar ist, ist mit dem Neutralitätsgebot nicht vereinbar. Eine Regelung, die insoweit bloß eine bestimmte Gruppe von Schülerinnen trifft, und zur Sicherung von religiöser und weltanschaulicher Neutralität sowie Gleichstellung der Geschlechter selektiv bleibt, verfehlt ihr Regelungsziel und erweist sich als unsachlich. § 43a SchUG verstößt daher gegen Art. 7 B-VG und Art. 2 StGG in Verbindung mit Art. 9 Abs. 1 EMRK und Art. 14 Abs. 2 StGG.“
Wir haben Ende März im Rahmen unserer Reihe ZiFF Spezial einen Beitrag publiziert, den Nurten Yilmaz, Abgeordnete zum Nationalrat und Integrationssprecherin der SPÖ, für ZiFF verfasst hat. Ein Verbot des islamischen Kopftuches für Schülerinnen ist nicht bloß eine rechtliche Maßnahme, die eine Auseinandersetzung aus kindschaftsrechtlicher oder verfassungsrechtlicher Sicht erfordern kann. Ein gesetzliches Kopftuchverbot ist eine politische Idee, ein Mittel zur Emotionalisierung in Wahlkampfzeiten, zur Mobilisierung mit Ressentiments und einem provozierten Konflikt auf Kosten einer Religion und ihr zugehöriger Kinder. Mit der zentralen Botschaft, dass die Verhüllung muslimischer Frauen ein wesentliches Symbol für eine Unwilligkeit zur Integration sei. Die kompetente Beurteilung einer politischen Idee darf nach meiner Auffassung den politischen Diskurs nicht ausblenden, sondern muss das politische Geschehen, seine Spielregeln und seine Wirkmechanismen einschließen und die betroffenen Kinder im Blick haben.
Wir wollen diesen Text mit dem Titel „Das Kopftuch in der österreichischen Polit-Arena: Ein Ausflug in einen umkämpften Diskurs“ allen Interessierten zur Verfügung stellen, zumal die Ausführungen von Frau Abg. Yılmaz eine äußerst differenzierte, an der Lebenssituation der Kinder und ihren Bedürfnissen ausgerichtete Auseinandersetzung mit der höchst komplexen Thematik bilden, die Kindeswohlerwägungen, Geschlechterverhältnisse, Frauenrechte, Emanzipation, das Verhältnis von Staat und Religion, den Umgang mit religiösen Einflüssen auf das Erleben von Kindern und Handlungskonzepte für Sozialarbeit zu deren Stärkung berührt. Die zentrale Bedeutung des Kindeswohls und der Kinderrechte, das Bekenntnis zur Ablehnung des religiösen Fundamentalismus und zum Schutz davon betroffener Kinder, die Betonung der Notwendigkeit einer sinnvollen Debatte über Laizität sowie der Wille, die Kinder zu stärken und sie dadurch in die Lage zu versetzen, eigene Entscheidungen treffen und sich erforderlichenfalls gegen religiöse Übergriffe aus ihrem Umfeld zu wehren, sind wesentliche Gesichtspunkte für eine Diskussion über ein gesetzliches Kopftuchverbot – und diese Debatte wird sicherlich aufs Neue beginnen, sobald dies den Proponent*innen eines solchen Vorhabens politisch opportun erscheint.
Bleiben Sie gesund und zuversichtlich!
Mit herzlichen Grüßen
Susanne Beck
Leiterin Z!FF
Nurten Yılmaz Beitrag können Sie hier herunterladen.