Wenn die Ehe nach § 55 EheG geschieden wird, hat das Gericht auf Antrag des beklagten Ehepartners nach § 61 Abs. 3 EheG zu entscheiden, ob der klagende Ehepartner die Ehezerrüttung allein oder überwiegend verschuldet hat. In einer Entscheidung vom März 2024 erläutert der OGH die dafür maßgebenden Kriterien und befasst sich dabei auch mit der Frage, inwieweit Eheverfehlungen, die erst nach der Zerrüttung der Ehe gesetzt werden, doch noch Auswirkungen auf die Verschuldensabwägung haben können.
Aus der OGH-Entscheidung:
1. Gegenstand des Rechtsmittelverfahrens ist (nur) der Antrag der Beklagten, nach § 61 Abs. 3 EheG das überwiegende Verschulden des Klägers an der Zerrüttung der gemäß § 55 EheG geschiedenen Ehe auszusprechen.
2. Bei dem Ausspruch nach § 61 Abs. 3 EheG kommt es nicht darauf an, ob der Kläger einen Scheidungstatbestand verwirklicht hat. Entscheidend ist allein, ob ihm eine Schuld an der Zerrüttung der Ehe anzulasten ist und ob, falls beiden Eheleuten ein Verschulden an der Zerrüttung vorzuwerfen ist, seine Schuld deutlich überwiegt (RS0057256).
Der Ausspruch, dass die Schuld eines Ehegatten überwiegt, ist nur dann zulässig, wenn dessen Verschulden erheblich schwerer wiegt als dasjenige des anderen Teils (RS0057858 [T1]; RS0057057 [T2]). Voraussetzung ist, dass der graduelle Unterschied der jeweiligen Verschuldensanteile augenscheinlich hervortritt. Da das überwiegende Verschulden, insbesondere bei den Scheidungsfolgen, dem alleinigen Verschulden gleichgestellt wird, ist ein strenger Maßstab anzulegen. Ein überwiegendes Verschulden ist daher erst dann anzunehmen, wenn das Verhalten der Gegenseite wertungsmäßig fast völlig in den Hintergrund tritt (vgl. RS0057858; RS0057251; RS0057821; RS0057325 [T4]).
3. Bei der Beurteilung des überwiegenden Verschuldens ist das Gesamtverhalten der Eheleute während der Ehedauer zu berücksichtigen; maßgebend ist, wer den entscheidenden Beitrag für die unheilbare Zerrüttung der Ehe geleistet hat. Es geht also nicht darum, die einzelnen Eheverfehlungen der Streitteile zahlenmäßig gegenüberzustellen. Im Rahmen der anzustellenden Gesamtabwägung kommt es auch nicht allein auf die Schwere der Verfehlung an sich, sondern auch darauf an, in welchem Umfang die Verfehlung zu der schließlich eingetretenen Zerrüttung der Ehe beigetragen hat (vgl. RS0057858; RS0056751; RS0057303; RS0057268; RS0057223; RS0056755). Aus diesem Grund führt der Umstand, dass das schuldhafte Verhalten eines Teils dasjenige des anderen Teils hervorgerufen hat, in der Regel zu der Beurteilung, dass dem Beitrag des ersteren zur Zerrüttung der Ehe größeres Gewicht beizumessen ist (RS0056751 [T2]; vgl. auch RS0057057; RS0056755). (…)
4. Eheverfehlungen, die nach der unheilbaren Zerrüttung der Ehe gesetzt werden, haben bei der Verschuldensabwägung kein entscheidendes Gewicht (RS0057338; vgl. auch RS0056921; RS0056939). Eheverfehlungen nach Zerrüttung der Ehe können nur dann noch von Bedeutung sein, wenn die Ehe noch nicht unheilbar zerrüttet ist und der verletzte Ehegatte bei verständiger Würdigung die weitere Eheverfehlung noch als Zerrüttung empfinden durfte (RS0057338 [T7]; RS0056887). Nach Eintreten der (noch nicht gänzlichen und unheilbaren) Zerrüttung gesetzte Eheverfehlungen sind also zwar nicht schlechthin unbeachtlich, weil auch eine schon bestehende Zerrüttung noch vertieft werden kann (RS0056900 [T5]). Ist die Ehe jedoch schon so tief zerrüttet, dass eine weitere Zerrüttung nicht eintreten konnte, so ist ein ursächlicher Zusammenhang zwischen einer neuen Verfehlung und der Zerrüttung im Allgemeinen nicht vorhanden (RS0056939 [T2]). Nach nunmehr ständiger Rechtsprechung spielt auch ein Ehebruch, der erst nach Eintritt der unheilbaren Zerrüttung der Ehe begangen wurde, bei der Verschuldensabwägung und insbesondere bei der Frage der Zuweisung eines überwiegenden Verschuldens keine entscheidende Rolle (RS0056900 [T2]).
Die unheilbare Ehezerrüttung ist nach ständiger Rechtsprechung dann anzunehmen, wenn die geistige, seelische und körperliche Gemeinschaft zwischen den Ehegatten und damit die Grundlagen der Ehe objektiv und wenigstens bei einem Ehegatten auch subjektiv zu bestehen aufgehört haben (RS0056832 [T1]; RS0043423). Die Frage, ob die Ehe unheilbar zerrüttet ist, ist nach objektiven Maßstäben zu beurteilen und eine auf der Grundlage der Feststellungen zu beurteilende Rechtsfrage, die Frage, ob ein Ehegatte die Ehe subjektiv als unheilbar zerrüttet ansieht, eine irrevisible Tatfrage (RS0043423 [T4, T6, T10]; RS0043432 [T1, T4]). (…)
5. Der Kläger begründet die Zulässigkeit und Berechtigung seiner Revision damit, dass dem Berufungsgericht sowohl in Bezug auf den Zeitpunkt des Eintritts der unheilbaren Zerrüttung als auch bei der Gewichtung des Verschuldens daran eine krasse Fehlbeurteilung unterlaufen sei. Das ist jedoch nicht der Fall.
Der Kläger argumentiert, beide Streitteile hätten als Zeitpunkt des Eintritts der Zerrüttung einen wesentlich früheren als den von den Vorinstanzen „festgestellten“ Zeitpunkt angegeben. Diese Angaben der Parteien seien im Ehescheidungsprozess bindend, eine davon abweichende Feststellung sei daher nicht zulässig. Dabei verkennt der Kläger, dass die Frage, wann die Ehe unheilbar zerrüttet ist, eine nach objektiven Maßstäben zu beurteilende Rechtsfrage ist (vgl. 5 Ob 139/23m). Der ausführlich begründeten Beurteilung des Berufungsgerichts, dass und warum die vom Kläger betonte Aussage der Beklagten, die Zerrüttung der Ehe sei (auch) für sie zu einem früheren Zeitpunkt eingetreten, nicht isoliert, sondern im Zusammenhang mit ihren vielen späteren Bemühungen um die Ehe zu sehen und entsprechend zu relativieren sei, hält der Kläger im Wesentlichen nur die Behauptung des Gegenteils entgegen. Eine auch im Einzelfall aufzugreifende grobe Fehlbeurteilung zeigt der Kläger damit nicht auf.
Auch bei der Verschuldensabwägung hat sich das Berufungsgericht an den von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen orientiert und seine Entscheidung im Rahmen dieser Grundsätze aufgrund der besonderen Umstände des Einzelfalls getroffen. Der Kläger meint, dass ihm sein Verhalten nach dem Zeitpunkt, als die Zerrüttung der Ehe für die Eheleute offensichtlich gewesen sei, nicht zum Vorwurf gemacht werden könne, weil damit ja wohl schon eine unheilbare Zerrüttung vorgelegen sei. Mit dieser Argumentation übergeht der Kläger, dass das Berufungsgericht die unheilbare Zerrüttung zu Recht nach objektiven Maßstäben beurteilt und deren Eintritt in nicht zu beanstandender Weise nicht mit den vorübergehenden subjektiven Empfindungen der Streitteile anlässlich der ersten größeren Schwierigkeiten, sondern erst zu einem wesentlich späteren Zeitpunkt angenommen hat. Dabei hat das Verhalten des Klägers (Zurückweisung, Gesprächsverweigerung, ostentative Nichtbeachtung und enge Beziehung zu einer Dritten) offensichtlich nach Ansicht des Berufungsgerichts nicht bloß eine schon bestehende Zerrüttung vertieft, sondern diese erst verursacht. Die Revision zeigt nicht auf, dass das Berufungsgericht – ausgehend vom festgestellten Sachverhalt – den ihm dabei zustehenden Beurteilungsspielraum überschritten hätte. (…)
OGH 12.3.2024, 5 Ob 229/23x